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Yoga im Herbst
Soviel steht fest: Wenn das Unausweichliche bevorsteht, wie zum Beispiel der
gerade scheidende Sommer, der mit Wehmut in den Herbst übergeht, möchten wir
noch einmal zurückblicken und den ganzen Genuss des Sommers ein letztes Mal
auskosten.
Wie viele Dichter -besonders Rainer Maria Rilke und im Folgenden Hermann
Hesse- haben diesen Übergang besungen:
„Es war ein schöner , glänzender Hochsommer hier im Süden der Alpen, und
seit zwei Wochen habe ich jeden Tag jene heimliche Angst um sein Ende
gespürt, die ich als Beigabe und geheime stärkste Würze alles Schönen kenne.
Nichts ist für diese Tage so charakteristisch, bei keinem anderen Anzeichen
empfinde ich diese besondere unendlich schöne Art von Sommer-Ende, das
stille langsame Zunehmen von Kühle und nächtlichem Tau...
Wie der Wald sich gegen den Herbst, wie der Sommer sich gegen das
Sterbenmüssen wehrte, so wehrt sich der Mensch in den Jahren, wo sein Sommer
sinkt, gegen das Welken und Sterben...“ (Aus: 'Mit der Reife wird man immer
jünger' Insel Taschenbuch)
In diesen Zeilen liegt die Melancholie des Abschieds und der Schmerz des
Loslassens. Das Loslassen ist unser schwerster Beitrag in der
Lebensbewältigung.
Auch im Yoga hat das Loslassen -vairagya genannt- einen wesentlichen
Stellenwert.
Patanjali, der große Yoga-Lehrmeister, beschreibt die umfangreichen
Veränderungen des menschlichen Geistes, wenn das Loslassen auf allen Ebenen
möglich geworden ist.
Er beschreibt aber auch, dass dieses Loslassen -vairagya- an das Üben
-abhyasa- gekoppelt ist. Im Sutra I,12/I,13 heißt es:
'Durch
Üben und die Fähigkeit loszulassen,
kann unser Geist den Zustand von Yoga erreichen'
'Üben bedeutet, dass wir eine passende Anstrengung
auf uns nehmen mit dem Ziel, uns dem Zustand von Yoga
anzunähern, ihn zu erreichen und aufrechtzuerhalten'
Mein Lehrer, der
Benediktiner und Zen-Meister Willigis Jäger, hat diesen Gedanken oft
aufgenommen und uns daran erinnert, dass wir im Grunde genommen, nur all
die Jahre meditieren, um das Loslassen zu erlernen. 'Nur lösen – nur
lassen', sagte er.
Wie können wir das Bewusstsein dahingehend schulen? Im Yoga haben wir ja
die Möglichkeit, direkt über die Körperübungen auf Seele und Geist
einzuwirken, um das wahre Selbst mehr und mehr zu erkennen. Nur in der
Erfahrung können wir die Sicherheit, das Aufgehobensein und die
Geborgenheit erleben, aus denen heraus das Loslassen zu wagen ist.
Unser vegetatives Nervensystem macht uns jedoch immer wieder einen
Strich durch die Rechnung, denn es ist nicht auf Ruhe, sondern auf
Unruhe eingestellt, ohne dass wir dies bemerken. Die Anforderungen des
Alltags sind hoch, so dass die Gewohnheit leicht zum Normalzustand wird.
Sich hinzulegen und zu entspannen, fällt daher nicht nur den
Beginnenden, sondern auch den Geübten im Yoga schwer. Leichte, ruhige
Bewegungsreihen, wobei die Bewegung nach dem Atemrhythmus ausgerichtet
ist, bieten eine gute Einstiegsmöglichkeit, auch für das tägliche Üben.
In dieser Koordination von Körperbewegung, Atem und Konzentration, kann
das vegetative Nervensystem tatsächlich auf Ruhe schalten.
'Stille
eint und heilt'
-Willigis Jäger-
Das Leben stirbt nicht
Jedes Blatt, sei es vom Baum oder einer Blüte, muss bereit sein zu
sterben, wenn es sich löst. Die Natur ist unser großes Vorbild und
Gleichnis, gerade jetzt im Herbst, wenn die Blätter fallen – in der
Gewissheit auf den nächsten Frühling...
Ohne Vertrauen bleibt uns an regnerischen Herbsttagen, bei gedrückter
Stimmung, wenig Hoffnung auf ein Sicherneuern. Da gilt es, sich
herauszuheben aus der Schwere und dem Dunkel des Daseins und ganz
konkret zu handeln:
Stiefel anziehen und einen wetterfesten Mantel mit Kapuze – dann
hinausgehen in die Natur – sich berühren lassen von der Veränderung –
das Gesicht dem Regen darbieten - und lauschen - immer wieder lauschen,
auch nach innen, mit der Frage: Was sollte ich längst losgelassen haben?
Wie gehe ich vor? Welche Hilfe kann ich annehmen?
'Was mag
das Herbstblatt fühlen,
wenn es niederschwebt - leiser noch als leise...'
heißt es in einem
japanischen Haiku. Dazu kommen weitere Fragen: Wer fängt 'mein Blatt'
auf, welches ich gerade so liebgewonnen habe. Gibt es mich noch, wenn
ich loslasse? Wohin weht mich der Wind? Und wie gehe ich gegen den Sturm
an?
Wohl dem, der dann ein Zuhause hat; nicht nur ein äußeres, mit einem
liebenden Menschen, sondern auch ein inneres Zuhause, aufgebaut aus
Lebenserfahrung und unterstützt durch viele Yoga-Übungsstunden, mit
wiederholenden Meditationen, wobei sich Stille und Erkenntnis
ausbreitet...
Denn:
'Was wir festhalten,
hindert uns am Werden' höre ich dann meinen betagten Lehrer sagen. Ja,
auch wenn wir unseren Atem festhalten, würden wir ersticken. Und wenn
wir die Nahrung nicht losließen, würde sie uns vergiften.
'Spiel
dein Spiel und wehr dich nicht,
lass es still geschehn,
lass vom Winde der dich dreht
dich nach Hause wehn'.
-Hermann Hesse-
Aparigraha - 'Nicht anhaften, nicht horten', steht bei Patanjali im
letzten seiner fünf yamas, auch deshalb, um ein gutes Mitglied im 'Spiel
des Lebens' zu bleiben. Denn das, was oft wie Verlieren aussieht, ist in
Wahrheit Gewinn.
Nur aus dem Gefühl eines Vertrauens heraus, das sich aus inneren Quellen
speist, ist Loslassen möglich. Loslösung kann im Yoga auch als Hingabe
verstanden werden, denn diese Hingabe gilt einer höheren Kraft, die wir
auch Gott nennen -ishvarapranidhana- heißt es im Sanskrit, als letztes
der fünf niyamas bei Patanjali.
Dieses Gottvertrauen gelingt nur, wenn wir beginnen uns weniger Sorgen
um die Dinge zu machen, die nicht zu ändern sind. Wenn das Göttliche in
uns die Führung übernommen hat, handeln wir auch im Leben richtig.
Sollte unser Handeln allerdings auf avidya, dem Nicht-Wissen basieren,
kommt häufig Unerwünschtes heraus. Hier liegt auch der Grund, warum
samtosa, mit Bescheidenheit umschrieben, so wichtig ist. Haben wir unser
Bestes getan, kann alles andere einem Höheren überlassen werden.
Das größte aller Loslösungen ist jedoch das Loslassen beim Sterben. Der
Dichter Hermann Hesse hat dies in seinem Stufen-Gedicht deutlich
gemacht. Zum Schluss kommt uns von ihm Tröstendes entgegen:
'Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Ufern jung
entgegensenden, des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...Wohlan denn
Herz, nimm Abschied und gesunde!'
Sterben – Einweihung ins Leben
Dieser Ausdruck von Gelassenheit bedarf der Einübung. In meiner Arbeit
als Yogalehrerin gebe ich auch Einzelstunden für kranke Menschen. Eine
dieser Teilnehmerinnen, die ich über ein Jahr betreute, ist gestorben.
Wenn es ihr schlecht ging, habe ich nur die Hände aufgelegt, gebetet
oder leise gesungen. Ich bat sie, ein für sie passendes Losungswort zu
suchen und dieses in den Atem einzubinden. Sie fand das Wort 'loslassen'
selbst. So atmeten wir gemeinsam mit dem gleichen Losungswort, welches
sich in ein Mantra verwandelte und uns noch über den Tag hinaus
begleitete. In der Nacht ist sie hinübergegangen...
'O Herr,
gib jedem seinen eigenen Tod ,
worin er Leben hatte, Lust und Not...'
-Rainer Maria Rilke-
Im Yoga gibt es eine
Entspannungslage, die Savasana heißt und Totenstellung bedeutet, weil
die Muskeln dabei so entspannt wie möglich sind, aber der Geist wach
bleibt. Durch fortgesetztes Üben gelingt es dem Geist, ausschließlich
dem Atem zu folgen, die Sinne zurückzuziehen und ruhig zu werden.
Ichbezogene Leidenschaften kommen für die Zeit der Tiefenentspannung zur
Ruhe. Und diese Ruhe kann sich mit zunehmender Erfahrung erweitern,
sodass sich Stille, Frieden und Schweigen ausbreitet. Später kann es
sogar zu einem neuen Verständnis vom Tod kommen(wie oben beschrieben)
und immer wieder das Loslassen als Notwendigkeit für die Hingabe.
Es war auf einem Kongress mit verschiedensten Meditationsthemen, als ein
tibetischer Rimpoche aufs Podium trat und fünf Minuten nur lachte. Dann
fragte er: 'Wisst ihr von meinem Vortragsthema? Nein? Ich soll über den
Tod sprechen!' Und er begann noch gewaltiger zu lachen. Inzwischen
dröhnte der ganze Saal vom Lachen aller, denn keiner konnte sich
entziehen. Dann begann er über Meditation zu sprechen:
'In der Meditation liegt eine offene Einfachheit und Alltäglichkeit ,
die fast magisch ist; sie ist gesund, klar, wach, voller Humor Freude
und Weisheit...Meditation ist einfach eine Frage von Sein, von
Schmelzen, wie ein in der Sonne gelassenes Stück Butter...'
Mich erinnerten die Worte an Patanjalis Kriya-Yoga vom 'Üben und
Loslassen' gleichzeitig. Ja – üben wir, so lösen wir, und lösen wir, so
üben wir... Letztlich üben wir die Überwindung des Todes.
In den Umschreibungen der Yogischen Weisheitsschriften -der Upanishaden-
heißt es:'Wenn der Mensch von diesem Tod zurückkehrt, ist er er selbst,
aber auch ein anderer, als er war. Die Diskussionen über Möglichkeiten
zur Befreiung in diesem Leben, lassen ihn gleichgültig. Er weiß für
sich, dass er lebt und den Tod lebend überwunden hat. Diese tiefe
Erfahrung löst alle 'Knoten' des Herzens.
'Da
waren weder Tod noch Unsterblichkeit,
als das Eine aus eigenem Impuls atmete'
-Hymne im Rig-Veda 10, 129-
Kann also Meditation
Einweihung ins Leben sein? Oft glauben Übende, die durch das vertiefte
Meditieren, Einblick in den Zustand ihrer Psyche hatten, nicht voran zu
kommen und sogar auf dem Rückweg zu sein. Aber gerade das sei ein
Zeichen, so die Meister, dass es in ihrem Leben voran geht. So
hinterließ Zen-Meister Hakuin folgendes: 'Jammere nicht, das dies so
weit weg ist. Wenn du sagst, du musst die Meere zum fernen China und
Indien überqueren, um dies zu sehen und zu hören, dann magst du ruhig
jammern, dass 'Es' so weit weg ist. Gibt es irgendetwas Naheliegendes
als deinen eigenen Geist mit deinem eigenen Geist, deine eigenen
Augäpfel mit deinen eigenen Augäpfeln zu sehen?'
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß...
schrieb Rainer Maria Rilke zu Beginn eines seiner bekannten
Herbstgedichte und ließ darin seine ganze Sehnsucht vom zurückliegenden
Sommer fließen. Noch einmal, nur noch einmal die ganze Fülle auskosten,
ehe der Herbst kommt!:
'Herr,
es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
und in den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchte voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den vollen Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachsen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben'.
Dieses, noch am süßen
Wein hängen, als Synonym des Nichtloslassenkönnens, ist verständlich in
der Aussicht auf die Trübungen des Herbstes. Aber, wenn er einmal da
ist, der Herbst, mit seinen am Anfang doch noch bunten Farben und später
dem raschelnden Laub, dann versöhnen wir uns. Es bleibt uns ja auch
nichts anderes übrig.
So kommt, nach und nach, die Zeit der Entschleunigung und mit ihr das
Nachinnenschauen, neue Möglichkeiten zur Stille und
Bewusstseinserweiterung.
Die Yogakurse werden wieder voller und einige mehr melden sich zur
Meditation an.
Yogalehrende nutzen diese Jahreszeit mit Themen zum Loslassen und
Nachgeben beim Unterrichten und leiten Entsprechendes sensibel an die
Teilnehmer weiter, im Wunsch dieses annehmen zu können, wie ein weiteres
Gedicht von Rainer Maria Rilke verspricht:
„Wenn es
nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Laute und Ungefähre verstummte
und das nachbarliche Lachen.
Wenn das Geräusch, das meine Sinne machen
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen -
Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken
bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank“.
Ältere Menschen sind
dankbar, wenn die heißen Tage hinter ihnen liegen und sich der Vorhang
des Herbstes öffnet. Auf ihrer Bühne spielen Ruhe und Gelassenheit die
größeren Rollen. 'Yoga auf dem Stuhl' ist für viele Ältere und auch
Behinderte eine wunderbare Alternative, wenn es schwer fällt Übungen auf
dem Boden mitzumachen. Der Herbst und das zunehmende Alter sind wie
Geschwister, die einander bedingen und beglücken können. Das Loslassen
war in all den Jahren erlernt worden – oft mühselig. Jetzt jedoch -einen
heiteren Blick zu den wehenden, abgefallenen Blättern im Wind wagen- und
Ähnlichkeiten erfühlen – das ist es.
Hermann Hesse wusste es immer:
'...Wir
sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen.
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten...'
Roswitha Maria Gerwin |
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